Wie trauern Kinder und Jugendliche?

Von Iris B. Sailer  - Mai 24, 2017

Der Einfachheit halber spreche ich in diesem Blogartikel von Kindern, egal wie alt sie sind.

Nachdem ein Trauerfall eingetreten ist oder auch einige Zeit danach, kommt es einem so vor, als ob die eigenen Kinder einem fremd geworden sind.
Mir ging das in einigen Trauerfällen so und das war auch der Ausschlag dafür, dass ich beschloss, mir das Thema Trauer genauer und irgendwann professionell anzusehen.

Kinder trauern nicht weniger als Erwachsene - sie trauern anders.
Oft können sie das, was sie fühlen, nicht genau einordnen oder in Worte fassen.

Erwachsene bzw. Eltern sind aufgrund von Trennung oder Tod eines Angehörigen oft in der eigenen Trauer gefangen. Für sie gibt es so viel zu entscheiden, so viel neu zu bedenken und zu organisieren, dass sie ganz glücklich sind, wenn die Kinder einigermaßen gut funktionieren. Um es gleich vorweg zu nehmen, das ist ganz menschlich und normal. Auch wir Eltern sind keine Übermenschen.

Manchmal ist die eigene Betroffenheit so groß, dass du nicht angemessen auf deine Kinder eingehen kannst, um sie in dieser extremen Situation aufzufangen. Das eigene Nervenkostüm ist dünn und oftmals reagierst du auch gereizter als du es von dir normalerweise kennst.

Eine möglicherweise Ausgrenzung des Kindes in der Schule kommt manchmal erschwerend hinzu. Hier habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass der enge und auch persönliche Kontakt mit den Lehrern Gold wert ist. Sprich offen mit dem Klassenlehrer deiner Kinder über die Situation, die zuhause eingetreten ist und bitte die Lehrer um zeitnahes Feedback, wenn sich die Kinder verändern. Klar ist das ein zusätzlicher Aufwand, jedoch erleichtert es in vielen Fällen die Kommunikation und verhindert ein Abrutschen der Leistungen, weil alle eng vernetzt sind und du diese Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen kannst. Natürlich musst du gegebenenfalls gegensteuern, jedoch kannst du hier den Blick etwas lösen und auf die Lehrer vertrauen, die sich bereit erklärt haben, Rückmeldung zu geben.

Kinder wollen ihre Eltern instinktiv nicht noch mehr belasten und ihnen noch mehr Kummer bereiten. Oft ziehen sie sich in ihrer eigenen Trauer zurück, werden still oder suchen sich ein anderes Ventil, z.B. durch extreme Handlungen, aus.
Hier ist die Hilfe eines Außenstehenden oftmals von Vorteil. Hilfreich ist außer den Eltern eine weitere erwachsene Person, zu der das Kind vertrauen hat. Das kann ein Onkel, eine Tante, ein Freund/in sein oder auch ein erfahrener Trauerbegleiter/in.

Über die Trauer, das Geschehen, zu sprechen fällt Kindern schwerer als uns Erwachsenen, hier können andere Methoden wie malen, Gebärden oder eine Gefühlsaufstellung viel Klarheit für das Kind, aber auch die Eltern geben.

Ebenso gibt es Trauerangebote für Kinder. Es sind Trauergruppen mit unterschiedlichen Ansätzen. Z.B. Trauergruppen für Kinder, die ein Geschwisterkind verloren haben oder Gruppen für Kinder, die in der Familie einen Suizid erleben mussten. Aber auch Trauergruppen für Kinder, die den relativ „normalen“ Tod eines Familienangehörigen verkraften müssen.

Zum Teil kennen wir das selbst, dass unterschiedliche Todesarten, auch wenn wir nur davon gehört haben, in uns die unterschiedlichsten Gefühle auslösen. Nicht anders ist es bei unseren Kindern. Diese können ihre Gefühle und Empfindungen jedoch noch weniger gut in Worte kleiden als wir Erwachsenen das können.

Für Kinder zum Beispiel, die einen Suizid in der Familie erleben mussten, ist es unendlich wichtig, ihnen immer wieder zu erklären, dass sie keine Schuld an diesem Tod haben. Denn ein Suizidant trifft die Entscheidung immer alleine, keiner zwingt ihn dazu. Und genau das muss einem Kind klar vermittelt werden.

Ähnlich verhält es sich bei einem Geschwisterkind. Stirbt ein jüngeres Geschwisterkind, fühlen sich die älteren oft in der Verantwortung, sind es jüngere, geben sie sich oftmals die Schuld, „auch“ noch da zu sein.
Für uns Erwachsene ist das rational oft nicht nachvollziehbar, aus meiner Praxis und der eigenen Familie kenne ich jedoch zur Genüge solche Verhaltensweisen.

Hier ein Beispiel aus der eigenen Familie. Nach dem Tod meines Stiefvaters und den daraus folgenden schweren familiären Turbulenzen waren wir Eltern so mit der Schadensbegrenzung und Trauer beschäftigt, dass wir dankbar waren, dass unsere Kinder „so gut in der Spur liefen“. Dabei übersahen wir, dass unsere jüngste Tochter immer weniger zu sich nahm und auch in der Schule massive Mobbingprobleme waren. Erst als sie einen totalen Zusammenbruch in der Schule hatte und wir uns bei der Notfall-Kinder- und Jugendpsychiaterin wiederfanden, schrillten alle Alarmglocken und die Selbstvorwürfe, wie blind wir waren, erdrückten uns fast.

Unsere Tochter war so untergewichtig, dass noch 100 g zur Zwangseinweisung und Zwangsernährung fehlten. Kaschiert hatte sie das damals, wie es gerade Mode war, mit weiten Klamotten.
Was nun?
Wir hatten das Glück, relativ schnell einen Platz bei einer Psychologin zu bekommen, bei der unsere Tochter dann die folgenden 3 Jahre wöchentlich zur Therapie war, danach wurden die Abstände länger. Bis dorthin wurde sie von der Notfallpsychologin betreut.

Mit der Schule hatten wir auch unendliches Glück, denn die Lehrer stellten unsere Tochter für 2 Monate von der Schule frei, damit sie wieder etwas zu Kräften kommen konnte. Das Thema wurde zuerst mit der Klasse, dann gemeinsam mit den Mädchen der Klasse und unserer Tochter, dann mit den Jungs und unserer Tochter, und nochmals mit der ganzen Klasse zeitnah und immer, wenn es für unsere Tochter ging, thematisiert.

Die Betroffenheit war groß und es entstand so eine tolle Dynamik in der Klasse, dass wir alle erstaunt waren. In den zwei Monaten, in denen unsere Tochter zu Hause war, durfte sie trotzdem an allen Veranstaltungen, die die Klasse machte, dabei sein (es war die Vorweihnachtszeit). Die Mitschüler kümmerten sich rührend um sie und vor allem ums Essen und meldeten uns Eltern über Whatsup zurück, was und wieviel unsere Tochter gegessen hatte, sodass wir zuhause den Überblick über die tägliche Nahrungsaufnahme hatten.

Das Ganze spielte sich im 10. Schuljahr der Realschule ab. Irgendwann war für unsere Tochter klar, ich schreibe die Abschlussprüfung mit. Wir haben ganz schön gebammelt, denn es fehlten ja 2 Monate und danach oft die Kraft zum Lernen. Doch unsere Tochter hat es geschafft. Sie hat die Realschule mit einem guten Schnitt abgeschlossen und danach das Fachabitur mit einem 1 Komma Schnitt beendet. Heute geht es ihr wieder gut, auch wenn sie immer noch leicht untergewichtig ist.

Ihr seht, es kann in jeder Familie in Zeiten der Trauer und sonstigen starken Belastungen viel passieren, was man nicht auf dem Schirm hat.
Wichtig für uns Eltern ist, nicht in Schuldgefühlen zu versinken, weil wir etwas nicht bemerkt haben, sondern aktiv nach vorne zu gehen, das Beste aus der Situation zu machen und Vorbild für unsere Kinder sein. Bei unserer Tochter haben wir uns nicht nur einmal entschuldigt, dass wir die Signale nicht gesehen haben. Heute, sie ist mittlerweile fast 20 Jahre alt, meint sie, dass sie uns zum einen nicht belasten wollte, zum anderen aber auch sah, dass wir selbst fast am Rad gedreht haben. Wichtig ist es, mit den Kindern offen auch über die eigenen Versäumnisse zu sprechen, wir sind keine Übermenschen, sondern Eltern. Und es gibt kein Handbuch, wie das Elternsein funktionieren kann, vor allem in Zeiten der Trauer nicht.

Seid nachsichtig mit euch selbst und mit euren Kindern. Nehmt Hilfe an, stellt Fragen und denkt immer daran, ihr macht es in der jeweiligen Situation genauso, wie es geht. Nicht mehr und nicht weniger.
Und je sensibler ihr für dieses Thema seid, umso besser könnt ihr in der eigenen Familie und auch in eurer Umgebung da sein.

In diesem Sinne, alles Liebe
Eure Iris