Trauer im Laufe der Zeit – gibt es Veränderungen?
Ich denke, diese Frage kann ich ganz klar mit Ja beantworten.
Trauer verändert sich, sie bleibt jedoch immer ein Teil von mir.
Im ersten Jahr tastet man sich an viele Tage neu heran. Da ist der erste Geburtstag ohne den anderen, vielleicht der erste Hochzeitstag. Das erste Weihnachten, Ostern muss alleine erlebt werden. Und dann kommt der erste Todestag.
Aufatmen. Ich habe alles einmal durchlebt und vor allem überlebt.
Im zweiten Jahr bin ich schon etwas entspannter und denke mir, das habe ich ja jetzt alles schon mal erlebt und dann holt es mich vielleicht mehr ein, als im Jahr davor.
So erging es mir beim 2. Todestag unserer Tochter. Der erste war schon schwer, aber beim zweiten dachte ich, die Welt bliebe stehen.
Andere Trauernde berichten mir genau das Gegenteil. Der erste Todestag sei der schwierigste gewesen, dann sei alles etwas leichter geworden.
Ich denke, das ist ganz individuell von Mensch zu Mensch und von Erleben zu Erleben unterschiedlich. Es gibt keine Richtlinie, kein richtig oder falsch bei dem Wie und Wann man trauern darf.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass, je länger Zeit zwischen einem Todesfall und dem Jetzt liegt, es einfacher wird. Ich lerne viele Dinge alleine zu machen, ich kann keine Rücksprache mehr halten – ich muss Entscheidungen alleine, auf mich alleine gestellt, treffen.
Mir hilft manchmal das Nachspüren, was hätte er oder sie in dieser Situation gesagt, getan.
Trauer verändert sich, genauso wie ich mich jeden Tag verändere. Und genau wie in meinem Leben treffe auch ich die Entscheidung, wie es mit mir und meiner Trauer weitergehen darf.
In meiner Praxis erlebe ich immer wieder Menschen, die am Alten festhalten, die die Veränderung, das Alleinsein nicht akzeptieren wollen oder können.
Für diese Menschen ist es unbesehen schwerer, mit dem Leben ohne den geliebten Menschen weiterzumachen. Sie haften an alten Situationen, an alten Gedankengängen, an der Frage: "Warum ich?" "Warum so?" "Warum gab es keine Hilfe….?"
Auch ich habe manchmal diese Gedankengänge, klar, wer hat das nicht beim Verlust eines lieben Menschen. Dennoch merke ich, dass mir diese Gedanken nicht guttun und mich in einen negativen Sog nach unten ziehen.
Wenn ich diese Gedankengänge merke, spreche ich dies in der Familie offen an, dann bekomme ich neue Sichtweisen oder aber, wenn ich meine Familie nicht damit belasten will, gehe ich zu meinem Trauerbegleiter. Oftmals ist man in den eigenen Gedankengängen fest verhaftet und kommt nur durch einen äußeren Impuls wieder auf neue Gedanken.
Ich stelle mir das immer so vor, dass es ist, wie wenn die Faszien verkleben. Diese z.B. mit Dehnübungen oder der Blackroll wieder zu lösen ist schmerzhaft, befreit jedoch ungemein und lässt mich wieder frei und tiefer atmen.
Genauso ist es auch mit der Trauer, sie klebt an mir, sie verklebt meine Gedankengänge, steuert mein Tun und Handeln, wenn ich es zulasse.
Werde ich mir dessen bewusst und steuere dagegen, ist Entwicklung auch in der Trauer möglich.
Geht Trauer ganz weg?
Ich glaube nicht.
Sie verändert sich, sie nimmt andere Formen, andere Dimensionen ein.
Die Entscheidung, wie und wie lange mich die Trauer fest im Griff haben darf, liegt ganz alleine bei mir.
Natürlich muss man hier auch Unterscheidungen treffen. Es kommt auch immer auf die Todesart an, wie ein geliebter Mensch verstorben ist.
Deshalb lasst sich in der Trauer auch nichts pauschalisieren.
Jede Trauer ist individuell.
Jede Trauer ist einzigartig. Ich trauere anders wie z.B. mein Mann oder meine Kinder.
Jede Trauer bedarf der Aufmerksamkeit.
Jede Trauer gibt mir die Chance, mich und mein Leben zu verändern.
Jede Trauer hat ihren Preis und ich entscheide, ob ich ihn zahlen will oder nicht.
Jede Trauer öffnet mir neue Horizonte.
Gibt es Veränderungen in der Trauer? JA, wenn ich es zulasse.
Ich wünsche Ihnen gute Veränderungen.
Alles Liebe
Ihre Iris Sailer